Skarabäus und die Zeit

Als unser Wanderer erkannte, dass er genug Zeit hatte, war schon einiges von dieser Zeit ins Land gezogen. Nur der Schreiber dieses Buches und Murmelauge, seine Freundin aus dem Ort, aus dem er gekommen war, wissen es. Und – der Leser wird es vielleicht nicht glauben – es waren Jahre. Skarabäus selbst bemerkte es nicht. Er war ohne Uhr fort gewandert und hatte kein Interesse daran, die Tage zu zählen oder die Wochen. Sein Interesse lag nur in der Erkundung des Merkunwürdigen Waldes und seiner zahlreichen Bewohner. Ja, es ist so, dass die Zeit anders wahrgenommen wird, wenn man mit sich selbst wandert und alle anderen ausgeblendet werden wir Silhouetten in einer nebeligen Umgebung.

 

Was vordergründig immer wieder da war, und was nicht zu enden schien, war: Angst. Skarabäus war mit der Angst in seinem Inneren losgewandert und wurde sie als Weggefährte nicht los. Erst hatte sie ganz konkrete Züge gehabt: Die Angst davor, hässlich zu sein, zum Beispiel. Skarabäus, der spiegellos aufgewachsen war, hatte immer geglaubt, dass seine Eltern dies beschlossen hatten, weil er derart abstoßend war, dass er sein eigenes Spiegelbild nicht ertragen könnte. Erst im Tal der Spiegel hatte er sich selbst gesehen und festgestellt, dass er nicht abstoßend war. Das Aufwachsen ohne Spiegel war Flucht und Segen zugleich gewesen, denn – hätte er die Prüfung im Tal der Spiegel bestanden, wenn er sein Äußeres bereits gekannt hätte?

 

Die Spiegel-Prüfung, die doch nichts anderes sagte als: Egal in welchen Spiegel Du schaust, Du erblickst Dich selbst.

 

Andererseits – so dachte er bei sich; er dachte sowieso einiges auf seiner Wanderung – war es doch verwunderlich, dass er dies begriffen hatte, schließlich war er nicht nur mit der Überzeugung, hässlich zu sein, aufgewachsen, sondern auch mit der Überzeugung, dumm zu sein. Ja, geradezu strohdoof. Oft genug hatten es ihm seine Eltern und all die Dorfbewohner vermittelt: So einer wie Du … was kann der schon werden?

 

Und nochmals sonderbar, dass der Wächter des Tals der Spiegel so erstaunt gewesen war, als Skarabäus ihm gesagt hatte, er glaube, dumm zu sein.

 

„Du bist der Erste“, hatte das Ungeheuer gesagt: „Der Erste, der keine Angst davor hat, dass ich ihn fresse.“

 

Dennoch hatte Skarabäus so viel Angst, dass er, wenn diese Angst Wasser wäre, einen Ozean aus Angst erschaffen könnte. Er hatte versucht, vor ihr zu fliehen: Vergebens. Er hatte versucht, sie zu verdrängen: Vergebens. Er hatte versucht, mit ihr zu reden: Vergebens. Er hatte versucht, sie logisch zu widerlegen (er, der so strohdoof war …): Vergebens.

 

Eines Tages in all den Jahren, sagte er zu sich: „Ich kapituliere vor ihr. Sie lässt sich nicht erschießen, nicht gefangen nehmen, nicht wegdiskutieren, nicht wegdenken, nicht umgehen. Egal wo ich hinblicke, sie ist da, und ich sehe sie doch nicht.“

 

Ja, er sah sie nicht: Sie hatte keine Gestalt. Und wenn sie eine hätte … ach, Skarabäus wäre wohl auf sie zugesprungen und hätte sie verprügelt, bis sie endlich aufgehört hätte da zu sein, bis er gemeint hätte, dass sie nun genauso viel gelitten hätte wie er selbst (und dafür hätte sie viel einstecken müssen).

 

Aber sie war wie Nebel, sie war wie Wasser, sie war wie Luftfeuchtigkeit: Mit den Händen war sie nicht zu fangen, nicht aufzuhalten; er konnte nicht mit ihr reden und er konnte sich nicht vor ihr schützen. Manchmal fragte er sich, ob es nur einen einzigen unter den anderen Menschen gab, der diese Angst so kannte, wie er sie kannte, oder ob sie sich an ihn geheftet hatte und er alles abbekam.

 

Sie schlich sich in seine Gedanken und in seine Brust. Dort verweilte sie dann und erstreckte sich in alle Körperregionen. Manchmal fühlte sich Skarabäus müde und zermürbt, und manchmal hasste er alles, was diese Angst nicht spüren musste. Als er noch in dem Dorf gelebt hatte, welches von Bewohnern besetzt war, die permanent Angst hatten, die Grenzen ihres Dorfes zu überschreiten, hatte er es erlebt, wie diese Menschen Ratschläge gaben, wenn einer ein Problem hatte. Obwohl diese Dorfbewohner nicht mehr kannten als die paar Menschen und ihr Vieh auf der Weide oder ein paar Bäume am Rande des Ortes, gaben sie Ratschläge, als hätten sie Ahnung von der Welt und von sich selbst.

 

Jetzt, da Skarabäus mehr gesehen hatte als 99 Prozent der Dorfbewohner, wusste er, dass sie keine Ahnung hatten, was es bedeutete, sich selbst zu finden, sein Inneres zu erleben, seine Gefühle nicht mehr wegzudrängen, Risiken einzugehen, ja, den Tod herauszufordern, der – so glaubten zumindest die Meisten – eintreten würde, sobald sie nur einen Millimeter ihrer Dorfgrenze überschreiten würden.

 

Er, Skarabäus, der Wanderer und der Wächter des Merkunwürdigen Waldes, wusste, dass sie keine Ahnung hatten. Und dennoch … vielleicht ahnten sie manchmal, dass es noch etwas anderes gab als den strikten Ablauf von Routine; dass hinter den Viehweiden noch etwas anderes lebte als die Hölle. Bestimmt sogar, denn sonst würden sie nicht mit aller Kraft Argumente gegen ein Weggehen sammeln. Sie sagen dann: „Ach, es geht uns doch gut!“ oder: „Warum mehr wollen, warum nicht zufrieden sein?“

 

Aber das ist nichts für Skarabäus.

 

Er kannte diese Orte an denen er war nicht und andere schienen sie auch nicht zu kennen. Ratschläge gab es also nicht, denn hier war niemand zuvor gewesen. Er war auf sich allein gestellt.

 

Skarabäus hatte Zeit. Und die Angst hatte ebenfalls Zeit.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0